Im Kosovo einen Arzt in Uniform zu treffen, war außergewöhnlich: Als ich im März 2003 beim Medizinbataillon des Kosovo Schutzkorps, Trupat e Mbrojtjës së Kosovës (TMK), in Prishtina anklopfte, war ich aufgeregt. Eine Mitarbeiterin der deutschen Caritas hatte mir empfohlen, mich an den stellvertretenden Leiter des Bataillons, Naim Bardiqi, zu wenden. Ich suchte medizinische Hilfe für den Bruder eines Bekannten. Er war an Leukämie erkrankt und konnte im Kosovo nicht behandelt werden.

Naim Bardiqi bot mir in seinem Büro einen Stuhl an und erklärte mir die Situation in hervorragendem Deutsch: Es gab Hilfe im Ausland für Patienten – aber nur für Kinder. Eine deutsche Stiftung stellte Gelder für Behandlungen zur Verfügung, doch Erwachsene konnten davon nicht profitieren.

Die Neugier war geweckt

Ich war enttäuscht, doch ich verließ das Büro nicht sofort. Naim Bardiqi interessierte mich. Wieso sprach er akzent- und fehlerfrei Deutsch? Wie kam er zu dieser Position in der TMK?

Naim antwortete bereitwillig auf meine Fragen: Er hatte sieben Jahre lang in Deutschland gelebt, bevor er sich 1998 der UÇK anschloss. Elf Monate kämpfte er, doch nicht als einfacher Soldat, sondern als Feldarzt, Rettungssanitäter, letzte Hilfe in der Not.

Wir vertagten das Gespräch auf ein Treffen außerhalb der Arbeitszeit. Definitiv musste ich mehr über diesen Menschen erfahren.

An der Wand ein Foto von Adem Jashari

15 Jahre ist das jetzt her und kommt mir immer noch vor wie gestern: das winzige, vielleicht sechs Quadratmeter große Büro, die braunen Resopal-Büromöbel, an der Wand das Foto von Adem Jashari.
Unser Zigarettenqualm, der in der Luft hing, die Assistentin, die anklopfte, um einen Tee zu bringen. Ich sollte noch oft in dieses Büro kommen, denn die zufällige Begegnung war der Beginn einer besonderen Freundschaft.

Wir lernten uns kennen und ich erfuhr mehr über Naim, über seine Erfahrungen im Krieg, in der UÇK, über seine Sicht auf den Nato-Einsatz. Ich lernte seine Familie kennen, seine Frau, erlebte, wie er Vater wurde. Sicher war auch er fasziniert von dieser Deutschen, die immer neue Fragen hatte zu dem, was er erlebt hatte, wie es ihm ergangen war, in diesem Monaten zwischen Euphorie und Verzweiflung.

Ich fühlte eine Aufgabe

Wir haben viele Bierflaschen in den Nächten geleert, in denen ich wieder und wieder dieselben Fragen stellte. Naim hatte doch mitten in dem Sturm gestanden, dessen letzte Ausläufer ich 1999 erlebt hatte. Er wusste, was Krieg war. Eine Frage, die mich, als Nachfahrin von Menschen berührte, die den Zweiten Weltkrieg selbst erlebt hatten.

Ich bin 1965 geboren, genau 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Natürlich ist das wenig – vor allem, wenn die eigene Mutter den über alles geliebten Vater in diesem Krieg verloren hat. Vielleicht war es etwas wie ein Familienauftrag, vielleicht einfach ein Übermaß an Empathie. Das Thema packte mich und ich fühlte eine Aufgabe.

Ein ernst gemeinter Satz

„Naim, ich werde das aufschreiben“, sagte ich vielleicht 2005 zum ersten Mal. Es war ein Herzenswunsch und vom ersten Mal an, als ich den Satz aussprach, ernst gemeint. Ich wusste nur nicht, was damit alles zusammenhängen sollte. Wie sehr dieser Satz mein Leben verändern würde. Wie lange es dauern sollte, bis aus dem Satz Realität wurde.

Ich denke, ich fing 2007 an, Material zu sammeln. Naim kam viele Samstage lang bei mir vorbei, um mir von seinen Erlebnissen im Krieg zu berichten. Ich zeichnete die Gespräche manchmal auf, immer machte ich Notizen. Wir trafen uns auch in Restaurants oder in Kneipen. Hauptsache, ich erfuhr immer mehr.

Es war ein unglaubliches Projekt: diesen Krieg in einem Buch festzuhalten. Wer könnte so etwas wollen?

Das Mosaik wurde immer größer

Ich interviewte den früheren Exil-Minister Bujar Bukoshi, den ehemaligen UÇK-Arzt und mittlerweile ehemaligen Kosovo-Premierminister Bajram Rexhepi, ich interviewte prominente und weniger prominente UÇK-Kämpfer. Natürlich sprach ich im Lauf der Jahre mit unzähligen Zivilisten. Das Mosaik wurde immer größer, die Puzzlesteine immer mehr.

Als ich 2009 nach Deutschland zurückkam, hatte ich eine riesige Menge an Material, die in das Buch einfließen sollte. Dabei war es doch keine Dokumentation, sondern ein Roman. Es war unmöglich, eine Dokumentation zu schreiben.

Das Kriegsende war erst so kurz her und es gab so viele ungeklärte Fragen. Vor allem die eine: Wie würde ich mit Kriegsverbrechen umgehen?

Ein gefährliches Thema

Im Krieg werden immer Verbrechen begangen, auf allen Seiten. Aber die wenigsten von ihnen werden gesühnt. Eine Dokumentation über den Krieg würde sich also daran versuchen, die Wahrheit über diese Ereignisse voller Schrecken darzustellen?

Das konnte nicht meine Aufgabe sein. Ich hatte weder mehr Kenntnis von Kriegsverbrechen als andere Zeitungsleser, noch wollte ich diese haben. Es wäre gefährlich und es war auch gar nicht mein Thema.

Das Leben schreibt immer seine eigene Geschichte

Mein Thema war es, den Weg, eines jungen Manns darzustellen, der mit unglaublich viel Idealismus aufbrach und dann erleben musste, dass ein Plan niemals die Wirklichkeit erreicht. Dass das Leben immer seine eigene Geschichte schreibt, die vielleicht viel besser ist, als das, was man sich vorgestellt hat. Aber es bleibt doch Enttäuschung, denn die ursprüngliche Vorstellung, die Gedanken und Träume lassen sich nicht auslöschen.

Das ist dann vielleicht auch schon mehr meine Geschichte. Ein Roman ist zwangsläufig die Geschichte seiner Autorin oder seines Autors.

Für mich ist alles wahr, was darinsteht.

Wie viel Wahrheit steckt also in dem Buch und wie viel Erfindung? Schwer zu sagen. Für mich ist alles wahr, was darinsteht. Aber nicht alles ist dokumentarisch. Manche Erlebnisse haben andere Menschen erlebt und haben sie mir erzählt. Manches habe ich selbst – in anderem Kontext – erlebt. Es fügt sich alles zusammen. Manches ist auch erdacht, um eine bestimmte Stimmung oder eine bestimmte Idee wiederzugeben. Es ist ein Roman. Ein Roman auf der Basis eines Lebens.

Nachtrag: Erst vor kurzem gestattete mir Naim zu veröffentlichen, dass es in groben Zügen seine Geschichte ist, die ich im Buch erzähle. Ich danke ihm dafür von Herzen.

Mechthild