Der Kosovokrieg lässt mich nicht los. Ich bin seit 1999 davon gefangen. Immer wieder beschäftigt mich, was die Menschen in dem Krieg erlebt haben, was sie durchgemacht und überstanden haben. Wenn sie es denn überstanden haben.

„Krankenschwester in Bosnien“

1999 war ich zum ersten Mal im Kosovo. Was hat mich dort hingetrieben? Eigentlich war es der Bosnienkrieg. Während der drei Jahre, in denen er wütete (1992-1995), beendete ich gerade mein Studium und machte meine Journalisten-Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule.

Auf die Frage, was ich werden will, sagte ich damals immer „Krankenschwester in Bosnien“. Das zeigte meine Hilflosigkeit. Ich wollte etwas tun, aber ich wusste, dass ich nichts tun konnte, was dort gebraucht wird.

Ich blieb in Deutschland, schaute Nachrichten und fühlte mich am falschen Platz. Als der Kosovokrieg im März 1999 begann, beschloss ich, es diesmal anders zu machen.

Freiwillige Helferin für eine Nicht-Regierungsorganisation

Ich bewarb mich sofort bei der Berliner Nicht-Regierungsorganisation Humanitarian Cargo Carriers (HCC) und wurde für drei Monate als Volunteer, als freiwillige Helferin, engagiert. Der Chefredakteur der Berliner Zeitung, Martin E. Süßkind, fand das gut und ließ mich gehen.

Wir fuhren einen Monat nach Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens zwischen NATO und Serbien, im Juni 1999, los. Als wir in Albanien ankamen, waren die Flüchtlinge schon wieder auf dem Heimweg in den Kosovo.

Also verließ ich HCC, begab mich erneut auf Jobsuche und heuerte bei einer amerikanischen NGO an, die als eine der ersten im Nachkriegskosovo vor Ort war: die International Catholic Migration Commission (ICMC).

Einsatz in Gjakova

Ich ging nach Gjakova, einer der am meisten zerstörten Städte im Kosovo. Der Markt war komplett niedergebrannt, außerdem zahlreiche Häuser. Auch in den Dörfern um die Stadt hatten die Serben fürchterlich gewütet. Außerdem hatten die Serben rund 2000 Männer aus Gjakova verschleppt. Es war einer der Orte, die vom Krieg besonders hart getroffen war.

Ich war zunächst die einzige Nicht-Kosovarin von ICMC vor Ort. Meine albanischen Kollegen und ich organisierten Hilfe für Einzelpersonen: Trockenmilch für Mütter, die ihre Babys nicht stillen konnten, Plastikplanen für Familien, deren Dach offen war. Es war eine Arbeit, bei der jeden Tag Menschen zu uns kamen, weinten und um Hilfe flehten.

Menschen hausten in Ruinen

Wir fuhren auch auf Dörfer, um zu gucken, ob Menschen dort Hilfe brauchten. Einige hausten in Ruinen und aßen nicht viel mehr als den Reis vom Welternährungsprogramm. Wir standen an frischen Gräbern, teilweise waren die Menschen dort nur oberflächlich verscharrt. An den Straßenrändern lagen Tierkadaver.

Wir arbeiteten so viel, dass wir uns kaum um uns selbst kümmerten. Die Versorgungslage war schlecht, so dass wir abends höchstens mal ein paar Spaghetti kochten. Telefon gab es nicht, natürlich auch kein Internet. Ich war total abgeschnitten. Einmal ging ich zu einer Organisation, die ein Satellitentelefon besaß und sandte meiner Mutter ein Fax. Näher kam ich an die Heimat nicht heran.

Marktstand in zerstörtem Haus

Das Gefühl zu spüren, wie Krieg sich anfühlt, hat mich verändert

Diese Zeit prägte mich tief. Die unmittelbare Nähe des Krieges, das Gefühl, noch spüren zu können, wie er sich anfühlt, hat mich verändert. Ich sah in die Gesichter dieser Menschen, die wenige Tage nach Kriegsende um ihr Überleben kämpften. Ich fühlte mit ihnen mit, ich stellte mir ihre Fragen: Warum so viel Gewalt? Wozu der ganze Schmerz? Was ist das eigentlich – Krieg?

Mit dieser Frage begann die Geschichte meines Romans. Obwohl ich damals noch nicht daran dachte, meine Erfahrungen aufzuschreiben. Das kam erst viel später, als ich noch viel mehr über den Kosovokrieg und über Krieg allgemein gelernt hatte.

Intensive Jahre bei UNMIK

Ich kehrte 2001 in den Kosovo zurück, diesmal zur Wahlvorbereitung für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Europa. 2002 bewarb ich mich unter dem deutschen Missionschef Michael Steiner bei der Übergangsmission der Vereinten Nationen UNMIK in der Pressestelle. Damit begannen sechs intensive Jahre. Ich wurde Pressereferentin von UNMIK, später Sprecherin und Leiterin der Pressestelle in der EU-geführten Abteilung der Mission.

Ich wurde oft für meinen Mut bewundert, im Kosovo zu arbeiten. Oder anders: dafür, dass ich anscheinend keine Angst hatte. Ich habe nie daran gedacht, dass mir dort etwas passieren könnte. Das ist aber kein Zeichen von Mut. Vielleicht eher von Verdrängung oder – positiv ausgedrückt – von Vertrauen in meine Aufgabe.

Gerechtigkeit im Kosovo herstellen

Ich fühlte einen Auftrag, einen wirklichen Sinn in dem, was ich dort tat. UNMIK baute die Verwaltung im Kosovo auf. Es gab zwar eine lokale Regierung. Da es aber kein Friedensabkommen zwischen Serbien, Kosovo und der NATO gab, gehörte Kosovo formal noch zu Serbien. Das sollte aber die Entwicklung im Nachkriegs-Kosovo nicht blockieren. Deshalb war UNMIK wie eine Supra-Regierung. Die Mission vertrat Kosovo international und fällte auch viele wichtige innenpolitische Entscheidungen.

Als Mitarbeiterin der Pressestelle und als Sprecherin war ich bei allem direkt dabei. Dies war kein Journalismus, wo es wichtig war, unparteiisch zu sein. Ich war davon überzeugt, dass es UNMIKs Aufgabe war, Gerechtigkeit im Kosovo herzustellen. Das schien mir von überragender Bedeutung. Gewalt oder Gewehrschüsse kamen darin nicht vor. Und so fühlte ich auch keine Angst.

Pistolen und Kleinkaliber-Gewehre waren normal

Natürlich war ich in dieser Zeit immer von Menschen mit Waffen umgeben. Das Gelände von UNMIK, wo ich arbeitete, war bewacht. Der Missionschef der UN-Mission hatte Tag und Nacht Personenschützer um sich. Da ich viel mit ihm zusammenarbeitete, wurden Pistolen, Kleinkaliber-Gewehre und martialisches Auftreten von Bodyguards normal.

Ein einschneidendes Erlebnis waren die Unruhen im März 2004 im Kosovo. Nach dem Ertrinken von drei albanischen Kindern bei Mitrovica explodierte plötzlich die Gewalt zwischen Serben und Albanern. Auch die Mitarbeiter der UN-Mission wurden zur Zielscheibe, weil die Bevölkerung mit den politischen Fortschritten unzufrieden war.

Drei Tage Ausnahmezustand

Ich werde diesem Ereignis einen eigenen Eintrag widmen, doch hier sei bereits gesagt, dass der Ausnahmezustand, in dem Kosovo sich drei Tage lang befand, mir brutal vor Augen führte, was Chaos in einem Land bedeutet.

Aus Berlin kommend war so ein Zustand unvorstellbar. Unmöglich sich auszumalen, dass ich mal Erleichterung fühlen würde, wenn ich militärische Fußpatrouillen in der Stadt sehe. Dass ich mich über britische Soldaten freuen würde, die Maschinenpistolen vor der Brust tragen. Doch wer in einem Krisengebiet lebt, sieht Militär mit anderen Augen. 

Widersprüchliche Gefühle

Natürlich sind die Gefühle widersprüchlich. Noch immer lehne ich Gewalt ab, halte Krieg für ein großes Elend und doch lässt er mich als Thema nicht los.

Schließlich traf ich 2003 diesen jungen Mann, dessen Geschichte mir so außergewöhnlich und faszinierend schien: Naim Bardiqi. Er war – getrieben von Idealismus – aus Deutschland in seine Heimat Kosovo zurückgekehrt und hatte sich der UÇK angeschlossen. Dort war er über sich selbst hinausgewachsen und zugleich innerlich fast zerbrochen.

KOSOVO. KLA soldiers on the front line. 1999.
An der Front: UÇK-Soldaten. 1999 Foto: Alex Majoli / Magnum Photos / Agentur Focus

Eine Geschichte der Nachwelt erhalten

Mein erster Impuls war: Diese Geschichte muss der Nachwelt erhalten bleiben. Gleichzeitig fand ich auch so viel von meinen eigenen Träumen, Sehnsüchten und Gefühlen in seinen Schilderungen wieder. Ich konnte mich so gut in ihn hineinversetzen, wie er als junger Mensch ins Flugzeug stieg, um seiner inneren Stimme zu folgen. Um dann eine Realität zu finden, mit der seine Träume gar nichts zu tun hatten.

Durch die Freundschaft zu Naim entstand die Idee, einen Roman zu schreiben. Ich wollte eine konkrete Geschichte erzählen, jedoch eine, die mich ganz stark betraf und viele meiner eigenen Ideen und Fragen berührte.

Die UÇK faszinierte mich

Mich faszinierte auch die UÇK. In den anderen Republiken Jugoslawiens hatten die Männer Kasernen und Waffen der Jugoslawischen Volksarmee übernommen und daraus eigene Armeen gebildet – die kroatische, die bosnische Armee. Im Kosovo war das nicht passiert, denn Kosovo war nie eine Republik in Jugoslawien gewesen.

Das hatte zur Folge, dass die UÇK alles allein auf die Beine stellen musste: Jeder kaufte sich seine Uniform, jeder seine Waffe. Alles war zusammengestückelt – und natürlich war alles klein. Jeder hatte eine Waffe, eine Uniform, eine Gepäcktasche. Die UÇK hatte keine Flugzeuge, keine Panzer, keine Jeeps.

Trotzdem trat sie gegen die Armee von Rest-Jugoslawien an, wie Serbien und Montenegro häufig genannt wurde. Diese rekrutierte sich ja auch – personell und von der Ausstattung her – aus dem alten Bestand. Die UÇK war dagegen wie ein Fußballverein, in dem jeder sein eigenes Trikot mitbringt und der dann trotzdem gegen den Club aus der ersten Liga antritt.

Ohne den Nato-Einsatz hätte diese Guerilla-Truppe nicht überlebt

Es war ein ungleicher Kampf und das machte Naims Entscheidung, sich der UÇK anzuschließen, noch extremer. Ohne den Nato-Einsatz hätte diese Guerilla-Truppe nicht überlebt. Er änderte alles. Auch für uns Außenstehende. Die Entscheidung der internationalen Gemeinschaft – anders als in Bosnien – einzugreifen, führte zu einem völlig neuen Bild. Jetzt waren auch unsere Länder im Krieg involviert.

So viele Aspekte flossen zusammen, so viele Fragen und so vieles, was eben nicht nur mit dem Kosovo zu tun hatte, sondern auch mit mir, mit meiner, unserer eigenen Geschichte.

Im Krieg Gibt es keine Wahrheit

Wenn nun aber so viel „real“ ist an diesem Buch, warum dann keine Dokumentation? Auch dieser Frage werde ich einen eigenen Eintrag widmen. Zwei Gründe spielen eine Rolle, warum ich die Realität in die Fiktion verschoben habe.

Erstens gibt es im Krieg keine Wahrheit. Jede Seite hat ihre eigene Wahrheit. Eine Dokumentation kann es insofern nicht geben. Zweitens: Das Buch verfolgt ein anderes Ziel, als Fakten wiederzugeben. Es geht nicht darum zu schildern, wer sich wann wohin bewegt hat und was chronologisch passiert ist.

Es geht darum, den Romanhelden zu begleiten in seinen elf Monaten Krieg. Ihm nachzuspüren und die Welt im Krieg mit seinen Augen zu erleben.

Ich wünsche allen, die sich dazu entschließen, viel Vergnügen. Denn auch, wenn es ein Kriegsroman ist, soll das Lesen unterhalten und erfreuen, den Leser mal zu Lachen bringen und ihn berühren.